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‹LULLABY›, 
Familienporträts als Welttheater


Endlich haben die Arbeiten von Nicholas Micros genügend Platz, endlich bricht sich ihre überbordende Energie nicht an Galeriewänden oder im privaten Raum. Eine Gruppe von fünf monumentalen Werken, die viele formale Bezüge aufweisen und auch gedanklich eine Einheit bilden, steht unweit seines Wohnhauses auf freiem Feld. Sie sind sorgfältig angeordnet und haben je ihr eigenes und eigentümliches Fundament erhalten, das zuweilen aufwendig konstruiert ist. ‹Lullaby› lautet der Obertitel des Gesamtwerks, das – als Familienporträt konzipiert – sich schnell zum Welttheater ausweitet. Grundsätzliche Bedingungen des menschlichen Lebens werden teils angedeutet, teils ausgeführt: Schicksal und Freiheit, Begierde und Verführung oder auch Tradition und Wurzellosigkeit. Mehr noch als bei üblichen Freilichtausstellungen ist der Betrachter aufgefordert, in Bewegung zu bleiben. Er sollte sich den Skulpturen von verschiedenen Richtungen nähern, denn, obwohl figürliche Bezüge auszumachen sind, besitzen sie alle keine bestimmte Vorder- oder Rückansicht. Schon aus der Ferne entfalten sie eine verstörende Wirkung. Je nach Blickrichtung lassen die Umrisslinien unterschiedliche Assoziationen zu. Tritt man näher, kommen immer mehr Details zum Vorschein, die man dem Ganzen unterordnen möchte, die sich jedoch einer solchen Vereinheitlichung entziehen und ein irritierendes Eigenleben entwickeln.
So wie man sich physisch der Werkgruppe von verschiedenen Seiten nähern und sie multiperspektivisch betrachten soll, so empfiehlt sich auch mental ein vielseitiges Vorgehen. Drei Aspekte mögen dabei im Vordergrund stehen: Die materiell haptischen Bezüge an der Oberfläche, das formale Gefüge, das auf minimalistischem Fundament oft barocke Üppigkeit entfaltet und schliesslich das gedankliche Gerüst, das auch in die verschiedenen Richtungen wuchert.

MATERIE     Nicholas Micros ist ein sinnlicher Künstler, bei dem die intensive Auseinandersetzung mit den Materialien und den möglichen Materialkombination meist am Anfang der schöpferischen Auseinadersetzung stehen. Einmal fühlt er sich in den Materialcharakter ein, dann bürstet er ihn gegen den Strich, indem er über Jahrhunderte gewachsene Tradition scheinbar bedenkenlos aufgibt. Es ist ein beständiges Spiel mit bildhauerischen Werkstoffen und Techniken. So wirken seine Steinskulpturen zuweilen geknetet, der Betonguss hingegen gemeisselt. Auch der kontrastreiche Aufprall verschiedener Materialien ist in diesem Oeuvre wichtig; Sandstein oder Marmor bildet zum langsam vor sich hinrostenden Metall einen prickelnden Gegensatz. Schon dieser autopoetische Umgang mit den Oberflächen der Dinge verrät die Beziehung des Künstlers zum Surrealismus. Es geht um die Poesie der spezifischen Materie, die Rätselhaftes, vielleicht Zufälliges, vielleicht auch Eigengesetzliches in sich birgt. In der Oberflächlichkeit der Materialien tun sich dank der poetischen Qualitäten ungeahnte Tiefendimensionen auf. Dass bei einer Plastik wie ‹Singer›, die auf dem ersten Blick aus Stein besteht, neben dem türkischen Kalkstein auch Steinguss, Stahl, geschmiedetes Eisen, Zementmörtel, Epoxyhartz und Blattgold verwendet wurden, zeigt nicht nur das bei dieser Kunst die Lust an materieller Kombinatorik eine Rolle spielt, sondern auch das Spiel zwischen Trug und Wirklichkeit.

FORM     Nicholas Micros ist ein formbewusster Künstler, der die Stile vieler Jahrhunderte in seinem Bewusstsein trägt und jederzeit darauf zurückgreifen kann. Mit den grossen Künstlern der Antike und Renaissance setzt er sich direkt, aber auch vermittelt durch klassizistische Plastiker des 18. Jahrhunderts wie Jean-Antoine Houdon auseinander. Ausgangspunkt der Formensprache von Nicholas Micros ist jedoch häufig der Minimalismus, der zur Zeit seiner Jugend und Ausbildung noch immer das Mass aller Dinge war. An deren Ansprüchen reibt er sich, lässt geometrische und stereo-metrische Grundelementen wie Kreis oder Kubus anklingen, nur um sie mit anderen, gegensätzlichen Formen zu konfrontieren, zu überlagern, aufzulösen. Er bringt unterschiedlichste Gestalten und Figuren zusammen, um sie sodann in überraschende, alogische oder gar absurde Konfigurationen zu versetzen. Dann ist er dem verästelten Werk eines Harry Bertoia näher als der monumentalen Geste Richard Serras oder Ulrich Rückriems, obwohl ihre Art, Dinge in den freien Raum zu stellen, hie und da anklingt.
Die Anlehnung an die Ästhetik der ‹objets trouvés› erinnert dann wieder mehr an die Gegenposition des Minimalismus der 1960er Jahre, an Neodada, mit dem beständigen Spiel mit Zufall und Zerfall. Aber keines der Objekte, die in den Skulpturen manchmal recht roh montiert sind, ist einfach gefunden und aufgelesen worden, alles wurde gestaltet oder zumindest transformiert. Es soll eine parallel Welt zur Alltagsrealität entstehen, manchmal verdichtet, manchmal genau so fragmentarisch und repetitiv wie diese.

GEIST     Nicholas Micros ist ein intellektueller Künstler, der sich in seinem Werk mit den existentiellen Fragen der Menschheit auseinandersetzt und nach Antworten sucht – die Aussichtslosigkeit dieses Unterfanges quittiert er dann nicht selten mit einem verstohlenen Augenzwinkern oder mit grotesken Bockssprüngen. Fast alle seine Arbeiten haben deshalb auch eine narrative Ebene. Sie erzählen nicht nur eine, sie erzählen viele Geschichten.
In den fünf Werken, die zusammen die ‹Lullaby› singen, steht je ein Familienmitglied im Zentrum, neben dem Künstlerehepaar und seinen beiden Kindern auch die Hauskatze. Jede Figur verkörpert die Suche nach einer Antwort auf die wichtigen Fragen zum Sinn von Geburt, Leben und Tod. Jede Figur scheitert bei diesem Unterfangen, nicht nur weil ihre Sicht mit Augenbinden und goldnen Brillen verunklärt ist, sondern auch weil es auf diese Fragen keine ab-schliessenden Antworten gibt. Das Schlafliedchen, das uns beruhigen sollte, wird zum Stachel, der uns immer von neuem antreibt, einen illusionslosen Blick auf die Welt zu werfen. Schliesslich ist es Zufall, wenn wir einen Zipfel des Schleiers, der die Dinge bedeckt, zu lüften vermögen.
Verwandtes und Gegensätzliches trifft im Mikrokosmos der Familie und im grossen Weltgefüge aufeinander. Für sich, aber auch im Zusammenspiel versuchen die einzelnen widerstrebenden Elemente ein Auskommen zu finden – vielleicht eine Art Harmonie. Auf der einen Seite befindet sich das kreatürliche Wesen, das nichts von seiner Geschichtlichkeit weiss: ‹Purrer›. Selbstgenügsam schnurrt die Katze vor sich hin und trägt gerade damit dazu bei, dass das prekäre Gleichgewicht des komplexen Beziehungsgeflechts, an dem sie teilhat, bewahrt wird. Auf der anderen Seite schreitet oder hüpft die Tochter als junge Frau ‹Drummer›, die sich der übermächtigen und traditionellen Kräfte wie Schicksal, Sühne und Vergeltung bewusst ist, voran. Auch wenn ihre Geleise weitgehend vorgezeichnet scheinen, will sie sich nicht einfach dreinfügen, sie begehrt auf, trommelt dagegen an. Sanftere Töne schlägt der Sohn auf der Gitarre an, aber sie sind keineswegs süsslich romantisch, weshalb er als Klimperer oder Gaukler (‹Strummer›) bezeichnet wird. Er ist neben vielem anderen der Verführer, der Rattenfänger, der Glücksmomente verspricht, wo es keine Garantie geben kann. Auch hier dreht sich die Figur im Kreis, allerdings in achtfacher Variation, die bei aller Wiederholung doch den Wechsel erahnen lässt. Die Zahl deutet unter anderem auf den ‹achtteiligen edlen Pfad› des Buddhismus hin. Die Erleuchtung, die dort am Ende des Weges lockt, kommt hier jedoch nie ins Blickfeld. Das bedeutet jedoch nicht, dass man sich oft an der Wegscheide befindet und oft den richtigen, seinen Weg finden muss. Dass die Wahl jeweils gelingt, bleibt oft dem Zufall überlassen. Es ist nicht selbstverständlich, dass die einzelnen Schritte ein Ganzes, ein erfüllte Leben, bilden.
Die Sängerin (‹Singer›) trägt am Ende eines in die Höhe gestreckten und schmerzhaft gewundenen Rumpfes die Gesichtszüge der Frau des Künstlers. Ein Wesen, das singt oder schreit während es dem Wasser entsteigt – Sirene und Paradiesschlange zugleich. Die Figur ist Sinnbild von Verlangen und Lust, aber auch von der Verführungskraft, sei es der Frau, der Schönheit, der Kunst schlechthin. Am Ende dieses Prozesses steht nicht notweniger Weise der Tod, aber doch die Erfahrung von einem möglichen Ende, von Endlichkeit. Diese Erfahrungen kommen nicht nur in der allegorischen Figur, sondern auch im unmittelbar sinnlich Gegebenen zur Geltung. So geht etwas Bedrohliches und Beunruhigendes von der Behandlung des Steines aus, der an manchen Stellen sehr fragil scheint. Die runde Stahlscheibe, auf der die Figur steht, ist eine der zahlreichen minimalistischen Reminiszenzen. Sie besitzt jedoch auch ein erzählerisches Element, bei dem die Ideen des Glücksrads oder des Kreisens, des ewigen Aufbruchs und der Wiederkehr anklingen. Der Gedanken des Lebenszyklus erscheint auch bei anderen Figuren und verweist auf wichtige Vorbilder wie Gustav Vigeland und Constantin Brancusi.
Und der Vater – eine Witzfigur auf zerbröselndem Fundament? Das Selbstbild als Karikatur. Zwar gebietet er mit seiner Geste noch Ruhe und Aufmerksamkeit (‹Husher›), aber ob ihm jemand zuhört, ist höchst fraglich. Die Strenge, die hier gefordert wird, verängstigt niemanden, selbst die Vögel wittern keine Gefahr. Zumal die Autorität heischende Figur mit Maiskolben als Opfergabe beruhigt wird. Alles ist provisorisch, roh, zusammengewürfelt und doch ist es auch eine Falle und Käfig für das Künstler-Ich, das, umgeben von seiner Familie, doch nur um sich selbst kreist. Einerseits kann er sich multiplizieren und so in alle Richtungen sehen – Shiva, der Allmächtige, andererseits ist da alles im Zerfall. Der Vater also versucht seine vielstimmige Umgebung zum Schweigen zu bringen, um eine Wahrheit zu verkünden. Doch nichts deutet darauf hin, dass sie Bestand haben wird. Wenn die eigene Identität für die Person zum Problem wird, wie soll sie anderen weiterhelfen? Das Geheimnis bzw. die Kunst, die sie hütet, mag sich als Trivialität erweisen oder als eine ganz persönlich Lösung. Einige mögen davon jedoch auch berührt sein, das Gezeigte vermag ihnen dann weiterzuhelfen.

Matthias Vogel, 2012
Studium der Kunstgeschichte, Anthropologie, Philosophie und Literaturkritik in Zürich, München und Berlin, abgeschlossen mit der Habilitation an der Universität Basel. Forschungs- und Lehrtätigkeit in London, Paris, New Haven und New York. Ausstellungskurator an zahlreichen Schweizer Museen und Kunstkritiker für Zeitschriften und Tageszeitungen. Seit 1988 Lehrtätigkeit an Schweizer Fachhochschulen und Universitäten vor allem in Zürich und Basel. Zurzeit Dozent für Ästhetik und Bildtheorie an der ZHdK (Zürcher Hochschule der Künste) Projektleiter des Forschungsschwerpunkts ‹Ästhetik und Rezeption von Medienbildern› am ith (Institut für Theorie) und ‹Hermann Obrist› am ICS (Institute for Cultural Studies).

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